Der Befehl

Die Startplattform des ›Earth Defense Hub 6‹ schwebte majestätisch im niedrigen Erdorbit. Wie ein übergroßes Schmuckstück aus blitzendem Stahl und grellen Lichtern wachte der Verteidigungsstützpunkt der Earth Alliance über den blauen Planeten. Captain Carter Reed stand am Rand der Plattform und sah hinab. Die beiden Ausleger für Frachttransporter lagen wie lang gestreckte Roboterarme einige hundert Meter hinter dem offenen Hangartor, und das fahle Sonnenlicht blitzte über ihre metallische Oberfläche.

Carter Reed entwich ein tiefer Seufzer, und er meinte, einen flüchtigen Dunstfilm an der Innenseite seines Visiers ausgemacht zu haben. Wenn dem so war, musste sein Anzug so bald wie möglich zu einer Inspektion. Einen defekten Luftfilter konnte er nicht gebrauchen, nicht heute und auch sonst nicht. Wieder einmal jagte der Anblick dieser blauen Kugel ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Die Erde hatte ihm eine Menge gegeben und genauso viel genommen. Versunken in seiner Vergangenheit dachte Carter nach, und die einzige Sache von dort unten, die er nach all den Jahren auf dem ›Hub‹ vermisste, war das verheißungsvolle Zwitschern der Vögel vor Sonnenaufgang.

Eine Reflexion huschte über sein Visier und im nächsten Augenblick spürte Carter eine Hand auf seiner Schulter.

»Wusste gar nicht, dass so ein gottverdammter Romantiker bist, Captain«, drang es durch den Lautsprecher in seinen Helm. »Stierst auf die Erde wie ein Vampir bei Vollmond.«

Mit einer schwerelos zähen Bewegung drehte sich Carter um und ein dunkles Gesicht mit einem grauen Dreitagebart lächelte ihn schief an. Die Haut war mit Spuren zahlreicher Kämpfe überzogen und in den Augen lag das unverkennbare Funkeln eines Kriegers, auch wenn dieser in Wirklichkeit nur halb so raubeinig war, wie er aussah.

»Und du klingst wie ein Dichter«, erwiderte Carter. »Ich bin 42, Snake. Du weißt schon…«

»Ich weiß, du Universalgenie«, murrte Snake. »Danke für den Fisch. Ich finde, du solltest nicht so viel grübeln. Und jetzt komm Captain, lass uns ein paar Terroristen grillen!«

Carter Reed beschloss, seine trüben Gedanken am Hangartor zurückzulassen und folgte seinem Kameraden. Er bewunderte, wie der hochgewachsene Soldat es in der Schwerelosigkeit schaffte, mit seinen magnetischen Halterungen an den Schuhen über die Plattform zu schreiten, als sei er unten auf der Erde. Für Carter selbst fühlte es sich immer an, als würde er betrunken über den Meeresboden spazieren, in Wirklichkeit sah es nur halb so schlimm aus.

Snake erreichte vor dem Captain die ›Maeve‹ und verschwand durch die Luke. An diesem Tag herrschte auf dem Landedeck des ›Hubs‹ schon überraschend früh Hochbetrieb. Eine Handvoll Cargo-Carrier rangierte Container über die von grellem Licht angestrahlte Oberfläche des Hangars. Über dem Captain schwebte einer der gewaltigen Mech-Roboter vorüber, auf den Gabeln seiner stählernen Arme eine Batterie Triebwerksmodule für die Havoc AC-130 Angriffsjäger, der tödlichsten Waffe im Geschwader des ›Hubs‹.

Und in der Leitstelle, welche für jeden hier unten gut sichtbar hinter einer beeindruckend großen Glasscheibe lag, sah er General Aziz, umgeben von seiner treuen Schar. Carter glaubte sogar, die quietschgelbe Kaffeetasse in der Hand seines Vorgesetzten auszumachen.

Carter wusste, was das rege Treiben zu bedeuten hatte, und er sah bereits, wie sein Wochenende sich auflöste und er stattdessen irgendwo dort unten in diesem Kriegsgebiet hocken würde und das richten müsste, was die lokalen Sicherheitsbehörden nicht auf die Reihe bekamen. Die Welt im Jahr 2115 war eben eine beschissene.

»Captain«, erscholl es in seinem Helm. »Wo zur Hölle steckst du? Sollen wir ohne dich fliegen?«

Mit großen Schritten stapfte Carter seinem Schiff entgegen, und wie er durch den schmalen Schlitz am Bug sehen konnte, saß Sarvesh bereits an seinem Platz hinter dem Steuer. In dem Augenblick, als Carter in das Transportraumschiff eintrat, richtete der Pilot die schwenkbaren Triebwerke am Ende der Flügel.

»Morgen, ›Rascals‹!«, grüßte Carter. »Lust auf einen räudigen Rundflug?«

»Gibt es einen Grund, warum im Briefing kein Ort und keine Auftragsbeschreibung genannt wurden?«, fragte Melissa, eine kräftige Soldatin mit schulterlangen Haaren.

»Das hier ist das Briefing«, sagte Carter ernst.

»Sind alle drin?«, ging Sarveshs Stimme dazwischen. »Ich schließe die Tür, wir haben Startfreigabe.«

»Dann los«, forderte Carter. »Je eher, desto besser.«

Der Captain hielt sich an der Stange über seinem Kopf fest und blickte auf seine Einheit, die zu beiden Seiten des schmalen Gangs wie Hühner auf der Stange saßen. Trotz der Routine und den über 200 Einsätzen, die Carter mit seinen ›Rascals‹ über die Bühne gebracht hatte, wirkten die Gesichter hinter ihren Visieren angespannt, als die ›Maeve‹ sich von der Landesicherung löste und sich langsam von der Plattform entfernte.

»Ich verstehe euch, Leute«, rief Carter gegen den Lärm der arbeitenden Triebwerke an. »Aber die Stabsstelle hat es nicht eher geschafft, uns Bescheid zu sagen. Außerdem haben wir da unten einen akuten Notfall.«

»Der Schah von Persien hat keinen Sprit mehr?«, hörte Carter aus dem Cockpit.

Ohne auf Sarveshs Kommentar einzugehen, erklärte Carter: »Die Rebellen haben in New Caledon das Parlament überfallen und Geiseln genommen. Insgesamt 17 Menschen, darunter auch Gouverneur Zavala.«

»Wow«, staunte die Frau neben Snake.

Carter sagte: »Ganz recht, Sherman. Irgendwie haben es diese dreckigen Rebellen geschafft, den Gouverneur der Hauptstadt der Erde als Geisel zu nehmen. Aber das ist noch nicht alles. Wir haben gleichzeitig den Auftrag, einen Koffer zu bergen.«

»Einen Koffer«, wiederholte Snake mit kritischem Blick.

»Das ist die Order, die ich erhalten habe«, sagte Carter. »Zavala sollte einen Koffer in die Zentrale der Earth Alliance bringen, wurde aber von den Terroristen erwischt.«

»Was ist in diesem Koffer?« Auf der Stirn der Soldatin Sherman bildete sich ein Faltengebirge.

»Unwichtig«, erklärte Carter. »Unser Auftrag lautet: Die Geiseln befreien, die Fracht bergen. Zudem tue ich mein Möglichstes, damit wir zum Fußball zurück sind.«

»Nett von dir«, sagte Snake und verdrehte die Augen.

Die ›Maeve‹ flog in großem Bogen um den ›Hub‹ herum. Hier draußen, in einigen Kilometern Entfernung, konnte man den Kampfkoloss in seiner ganzen Größe bewundern. Der Verteidigungsstützpunkt der Earth Alliance schwebte wie ein gewaltiger Flugzeugträger über der blauen Ellipse der Erde. Das anderthalb Kilometer lange Hauptdeck mit seiner Landeplattform dominierte die Form, nur unterbrochen von dem mächtigen Aufbau des Kontrollturms, den wulstigen Triebwerken an der Unterseite und den Schiffsanlegern.

Die ›Rascals‹ waren auf dem Weg hinab und Carter verlor sich erneut in finsteren Gedanken. In wenigen Minuten wäre er wieder unten in einer Welt, die sich im Umbruch befand. Zwar hatten die meisten Staaten ihre territorialen Streitigkeiten aufgegeben, was aber keineswegs hieß, dass alles in bester Ordnung war. Im Gegenteil. Seit fast 20 Jahren erschütterte eine gewaltbereite Opposition den Frieden. Über alle Nationen und Grenzen hinweg war die Bewegung zu einer ernst zu nehmenden Rebellion herangewachsen, und die Unruhe, die sie heraufbeschworen hatte, war drauf und dran, die Erdgemeinschaft zu spalten. Carter presste die Lippen zusammen und linste durch die winzigen Scheiben auf die Erde hinab.

»Noch etwa zehn Minuten«, sagte er tonlos. »Macht euch bereit.«

Daraufhin erklang das wohlbekannte Rumpeln der Stiefel auf dem Boden, das Klappern der Lasergewehre, welche die ›Rascals‹ aus den Halterungen unter ihren Sitzen hervorholten. Verbissen prüfte jeder Einzelne die Munition, den Sauerstoff der Atmung und den Treibstofftank der Jetpacks.

Die ›Maeve‹ tauchte in die Stratosphäre ein und ein feuriger Schein legte sich außen um die Schiffshülle. Der Boden und die Wände um Carter herum erzitterten, als wäre er auf direktem Weg in die Hölle.

»Also gut, Leute!«, begann der Captain. »Higgs lädt gerade die Laufkarte des Parlamentsgebäudes auf euer Anzugsystem. Sarvesh wird uns 1000 Meter vor dem Ziel rauswerfen.«

Der Pilot winkte und sagte: »Ich halte euch den Kaffee warm.«

»Rechnet mit massiver Gegenwehr, auch wenn wir im Stealth-Modus fliegen. Die Rebellen haben in den letzten Wochen viel dazugelernt, wir sind aber darauf vorbereitet. Denkt an euer Training. Nutzt das Überraschungsmoment!«

Carter machte eine kurze Pause, als Snake einwendete: »Vorbereitet? Die Rebellen reißen uns in letzter Zeit den Arsch richtig weit auf. Die erzielen sogar nennenswerte Gewinne, Captain.«

Carter runzelte die Stirn. »Was ist mit dir los, Snake? Du frisst mehr Proteinschleim als jeder andere von uns. Du könntest so einen Rebellen in deiner Hand zerquetschen. Aktuell sieht es vielleicht so aus, als könnten sie uns etwas anhaben, aber wir sind mehr. Wir sind stärker, besser ausgerüstet und taktisch intelligenter. Mit ihren Aktionen versuchen sie, uns zu demoralisieren. Das werden wir aber nicht zulassen.«

Snakes Gesicht blieb unsicher, während die anderen sich weiter auf den Einsatz vorbereiteten.

»Also gut, ›Rascals‹«, rief Carter und versuchte, die Stimmung nicht kippen zu lassen. »Wir putzen alles vom Dach des Gebäudes, was einen Laser auf uns abfeuert. Danach dringen wir in zwei Einheiten vor und sichern Sektor für Sektor von oben nach unten. Seht zu, dass wir sauber aus der Sache rauskommen. Viel Glück!«

Carter hangelte sich durch das schaukelnde Schiff nach vorn durch, wo ihm Sarvesh einen flüchtigen Blick schenkte.

»Wird ungemütlich da unten«, sagte der Pilot. »Du hättest mal den Wetterbericht checken sollen.«

Der Feuerschein um die ›Maeve‹ herum war längst wieder erloschen, und sie steuerte auf die wütenden Sturmwolken eines anbrechenden Abends zu. Der Truppentransporter durchbrach die Wolkendecke und tauchte in den Sturm über New Caledon ein. Regentropfen klatschten mit einer Härte gegen die Scheiben und die Hülle des Schiffs, als seien sie die Kiesel eines gerade erst gesprengten Asteroiden. Sarvesh gestaltete den Anflug so ruhig wie möglich, was allerdings noch immer einer äußerst ruppigen Achterbahnfahrt glich.

»Regenschirm dabei?«, scherzte der Pilot.

Carter erwiderte nichts. Etwa einen Kilometer unter der ›Maeve‹ erstreckte sich New Caledon. Die Hauptstadt der vereinten Territorien erschien ihm wie ein mächtiges Lebewesen. Die grellen Lichter der Häuser, Straßen und Lufttrassen erhoben sich aus der einbrechenden Dunkelheit. Selbst aus dieser Höhe sah Carter, wie dort unten am Boden der schwindelerregend tiefen Hochhausschluchten das triste Großstadtleben pulsierte. Fliegende Fahrzeuge schwirrten durch das Labyrinth feurig glühender Abgründe bis weit nach oben um die hoch aufragenden Spitzen der mächtigsten Gebäude. Der Sturm peitschte über die Skyline, begleitet von einem alles verschlingenden Regen, der die Metropole in einen silbernen Spiegel apokalyptischen Ausmaßes verwandelte.

Carter atmete einmal kurz durch, ballte seine Hände zu Fäusten, dann verkündete er: »Es geht los. Holen wir die Geiseln da raus!«

Die ›Rascals‹ sprangen von den Bänken. Energisch setzten sie ihre Jetpacks auf, prüften bei ihrem Nebenmann, ob die Raketenrucksäcke sicher saßen, dann stellten sie sich in einer Reihe vor der Luke auf. Carter spürte, dass der Kampfgeist des Teams geweckt war. Seine ›Rascals‹ würden ihn nicht enttäuschen. Sie durften ihn nicht enttäuschen! Das grimmige Brummen des hochgetakteten Schiffsantriebs schwoll ab und die ›Maeve‹ verlangsamte spürbar ihre Geschwindigkeit.

Carter stapfte an seinen Leuten vorüber, schnappte sich sein Jetpack und schnallte es sich auf den Rücken. Dann blickte er jedem seiner treuen Männer und Frauen ins Gesicht, so wie er es vor jedem Einsatz zu tun pflegte. Die Luke öffnete sich und Carter blickte geradewegs in den Schlund der Hölle. Mehr noch, die entfesselte Wut der irdischen Unterwelt drang ein, und es war, als tobte plötzlich ein Hurrikan in der Kabine. Carter machte einen Ausfallschritt, um nicht von dieser Naturgewalt umgepustet zu werden.

»Los!«, brüllte er. »Raus jetzt!«

Nacheinander sprangen die ›Rascals‹ hinaus in die Dunkelheit und Carter sah, dass augenblicklich die Düsen ihrer Raketenrucksäcke wie Leuchtfeuer in der Nacht erstrahlten. Snake sprang vor dem Captain ab, und als Carter an der Reihe war, durchflutete ihn ein Gefühl plötzlichen Unmuts. Doch es gab kein Zurück. Er musste dort raus, schließlich waren er und sein Team für die Sicherheit auf der Erde verantwortlich, fest entschlossen, die Flammen der Rebellion zu ersticken, bevor sie zu einem höllischen Inferno werden und die gesamte Erde ins Chaos stürzen konnten.

Das Desaster von New Caledon

Carter sprang. Er jagte durch das Unwetter. Die ›Maeve‹ sah er nicht mehr, sein Blick war starr auf die glühende Silhouette New Caledons gerichtet. Die Regentropfen schlugen als dünne Fäden gegen das Visier. Auf seiner Innenseite aktivierte sich nun die Anflugunterstützung, welche die ins Bordsystem des Anzugs geladenen Daten verwendete.

Die Straßen tief unter Carter waren überfüllt von Fahrzeugen, die sich zwischen den hoch aufragenden Gebäuden hindurchzwängten. Doch die Geräusche der Stadt, diese Kakophonie aus Motorengeräuschen und dem Rauschen des Regens, drangen nicht bis zu ihm hinauf. Das Sausen des Flugs und das Piepen der Landeautomatik waren das Einzige, was Carter hörte.

»Noch 300 Meter, Leute«, verkündete er.

Schräg unter den ›Rascals‹, die in Pfeil-Formation flogen, erschien das Parlamentsgebäude. Von hier oben und bei diesen Wetterverhältnissen sah es aus, als hätten die Bauherren einen schlechten Tag gehabt und beim Entwurf des Dachs aufgegeben, nach irgendwelchen Grundsätzen zu gestalten. Das Ergebnis war ein verwinkelter Irrgarten auf verschiedenen Ebenen, auf dem die mächtigen Aufbauten der Heizung und der Belüftungsanlagen thronten.

Carter hatte noch nicht den holografischen Lageplan des Dachs vor sich, als urplötzlich rote Laser durch das graue Zwielicht jagten.

»Scheiße, sie haben uns trotz Stealth-Signatur gesehen!«, rief Higgs.

»Bleibt ruhig«, befahl Carter. »Solange wir das Feuer nicht erwidern, fällt es ihnen schwer, unsere Position zu ermitteln.«

Doch auf den letzten Metern hielten es seine Leute nicht mehr aus. Die vordersten, vermutlich die Draufgänger Sherman und Galicio, feuerten auf die Angreifer hinter dem Regenschleier. Es ging los! Nur einen Augenblick später verwandelte sich das Dach des Parlamentsgebäudes in ein Blitzlichtgewitter aus blauen und roten Lasern. Carter nahm die letzten Meter und setzte seine Füße auf das Dach. Er riss sein Gewehr nach oben und zielte auf eine Silhouette, die hinter dem Aufbau auf der linken Seite hervorlugte. Carter feuerte, bevor der Angreifer es tun konnte. Still sank der Schatten zu Boden.

Der Captain rief: »Snake, du und Billy nehmt euch die Ostflanke vor. Sherman, Riley, ihr geht rüber nach Westen. Der Rest, wir sind der Bulldozer in der Mitte. Los!«

Carter lief voran. Mit schnellen Schritten und präzisen Schüssen erkämpften sich die ›Rascals‹ Territorium. Die Impulse der Laserwaffen zuckten wie Lichtblitze durch die beginnende Nacht, und in ihrem schnell verblassenden Schein fiel ein Rebell nach dem anderen. Carter sah kein einziges menschliches Gesicht. Für ihn waren die Angreifer in diesem Regenguss nicht mehr als die Pappaufsteller in einer Schießbude.

Mit stillen Kommandos führte Carter seine Leute durch den Sturm, und er wusste, dass er sich auf jeden Einzelnen von ihnen verlassen konnte. Schon nach einer Minute wusste der Captain, dass der Widerstand keine Chance haben würde.

Mit einer eingespielten Choreografie, die jeder Bewegung und jedem Schuss eine fast tänzerische Eleganz verlieh, drangen Carter und sein Team weiter vor, bis sie schließlich am Eingang zu einem der Treppentürme auf Sherman stießen.

»Meine Seite ist sauber«, sagte die Soldatin. »Der Regen spült den Rest weg.«

»Snake, Billy«, rief Carter. »Wie ist die Lage bei euch?«

Der Captain blickte hinüber zu einem drei Stockwerke hohen Aufbau, hinter dem es rot und blau blitzte. Einen Augenblick später verkündete Snakes raue Stimme: »Billy lässt sich ganz schön Zeit. Ich glaube, er spielt im Anfänger-Modus.«

Carter überblickte die holografische Operationsanalyse in seinem Helm-Display.

12 neutralisierte Gegner, las er.

Nach wenigen Augenblicken erstarb das rote Feuer und Snake schloss mit Billy zu den anderen auf. Gemeinsam drangen die ›Rascals‹ ins Gebäude vor. In defensiver Formation über schutzbietende Ecken und gegenseitiges Absichern durchsuchten sie die oberen Stockwerke und arbeiteten sich vorsichtig nach unten vor. Doch zu Carters Verwunderung trafen sie niemanden, nicht einmal die Sensoren ermittelten etwas. Carter wusste, je länger sich niemand von den Aggressoren zeigte, desto wahrscheinlicher war, dass sie sich irgendwo verschanzten. In Kombination mit Geiseln war dies selten ein erfreuliches Szenario.

Auf Ebene 27, vier Etagen unterhalb des Dachs, blickte Carter auf den winzigen Bildschirm an seinem rechten Unterarm. »Ich registriere ein Brummen im Infraschallbereich. Es ist zu unregelmäßig, als dass es sich um eine Klimaanlage handeln könnte.«

»Wo?«, wollte Snake wissen.

»Auf dieser Etage, Sektion D«, antwortete Carter. »Snake, Sherman, Billy, ihr kommt mit mir. Wir spielen Besucherdelegation. Riley, du und alle anderen zieht die Schlinge von außen um die Sektion zu. Sorgt dafür, dass niemand entkommt.«

»Aye«, bestätigte Riley, ein kräftiger Kerl, der eher nach einem kriminellen Rancher Wyomings als nach einem irischen Schafhirten aussah, wie man anhand seines Namens hätte vermuten können.

Nachdem Riley mit den anderen an der nächsten Weggabelung abgebogen war, schlich Carter Reed mit seinen drei Leuten in einer Linie entlang der leer gefegten Flure.

Das Regierungsgebäude war, entgegen seiner Vermutung, kein besonders nobler Kasten mit samtenen Wänden und warmem Licht. Stattdessen ließ der blasse Neonschein der Deckenleuchten den Korridor, welcher mit seinen matt stählernen Wandplatten und seinem hellen Kunststoffboden genauso gut oben im ›Defense Hub‹ hätte sein können, in einem frostigen Glanz erscheinen. Nach etlichen Biegungen und ohne Gegenwehr gelangten Carter und die anderen zu dem Raum, in dem das Infraschallmessgerät seines Anzugs das Brummen registriert hatte.

Vorsichtig traten die vier ›Rascals‹ auf den Korridor, welcher den kreisförmigen Raum umschließen musste. Anhand der Krümmung des Gangs vermutete Carter, dass der Raum einen Durchmesser von etwa 50 Metern hatte. Sämtliche der breiten hölzernen Flügeltüren waren geschlossen und verwehrten Carter den Blick hinein. Er war sich sicher, dass nicht einmal der Röntgen-Scan etwas bringen würde, denn dies schien einer der Sitzungssäle zu sein. Und diese waren mit allen technischen Raffinessen ausgestattet, welche die moderne Sicherheitstechnik hergaben. Die ganze Sache stank zum Himmel. Riley war noch nicht hier, andererseits war dies kein Grund, sich zu sorgen.

Plötzlich vernahm Carter Rileys leise Stimme in seinem Helm: »Captain, wir haben die Nordseite des Raums erreicht, alle Türen sind verschlossen.«

»Okay«, flüsterte Carter. »Wir sind genau auf der gegenüberliegenden Seite. Wir gehen rein, ihr verteilt euch um den Raum und kommt dazu, sollte die Lage eskalieren.«

»Verstanden.«

Der Captain erblickte hinter Snakes Visier Misstrauen, doch Carter blieb standhaft: »Komm schon, wer außer uns soll sich um den ganzen Abschaum kümmern?«

Der Soldat mit dem ergrauten Dreitagebart verzog seine vollen Lippen und nahm sein Gewehr hoch. Sein kurzes Zweifeln schien wie verflogen. Doch Carter machte sich Sorgen. Snake war einer seiner besten Männer, und wenn er an der Sinnhaftigkeit der Mission zweifelte und er die Überlegenheit beim Gegner sah, war das kein gutes Zeichen. Carter suchte Blickkontakt zu den anderen, legte eine Hand an den Türgriff und zog sie behutsam auf.

Nicht verschlossen!

Von drinnen drang nicht der kleinste Mucks nach draußen. Obwohl, nicht ganz! Carter hörte dumpfes Summen. Entschlossen zog er das Türblatt auf, richtete sein Lasergewehr in den Raum und stürmte hinein. Doch kaum war er in dem kreisförmigen Besprechungsraum mit der niedrigen Decke – Snake, Sherman und Billy absichernd neben ihm – blieb er verdutzt stehen.

Inmitten von umgestürzten Tischen und Stühlen knieten sie. Carter zählte insgesamt sechs Geiseln. Nervös blickte er über die Anzugträger, denen man die Jackets ausgezogen hatte. Ihre Münder waren mit Gewebeband zugeklebt, die Hände auf dem Rücken geknebelt. Mit weit aufgerissenen Augen artikulierte jeder von ihnen dumpfes Kauderwelsch. Außer ihnen schien sich niemand in dem Raum aufzuhalten.

Vorsichtig näherten sich Carter und die anderen den Geiseln. Auf Carters Kommando löste Snake bei einem der Männer, ein Kerl so alt wie Carter, das Klebeband am Mund. Gierig rang er nach Luft.

»Sie sind weg!«, keuchte er. »Die Rebellen! Ich habe gehört, dass sie miteinander gesprochen haben. Sie wollen Sprengsätze in einer der unteren Ebenen platzieren.«

»Die spielen ganz schön hart!«, knurrte Sherman.

»Wo ist der Gouverneur?«, fragte Carter.

»Sie haben ihn mitgenommen.«

Carter sah sich um. Die anderen Türen des Raums waren geschlossen, dahinter mussten sich längst Riley und die anderen postiert haben. In seinem Helm erschien das Bild eines quadratischen Stahlkoffers. Den hätte Carter beinahe vergessen, doch als er seinen Blick über das Durcheinander schweifen ließ, fand er nicht das Geringste.

»Macht sie frei«, ordnete Carter an.

Während Snake und die anderen die Geiseln von ihren Fesseln befreiten, warf Carter einen prüfenden Blick auf das Display an seinem Arm. Und stutzte.

Laut seinem System befand sich die eigentliche Quelle des Brummens nördlich von ihm im hinteren Bereich des Raums. Carter sah auf. An dieser Stelle lag ein schmaler Flur, an dessen Ende sich eine weitere Flügeltür zum Korridor befand. Zu beiden Seiten waren Räume, vermutlich ein separater Besprechungsraum oder eine Kaffeeküche. Die Adern in Carters Körper zogen sich unheilvoll zusammen, als er sich in langsamen Schritten dem kurzen Flur näherte.

»Was ist, Captain?«, fragte Snake.

»Einen Moment«, sagte er. »Ihr bleibt, wo ihr seid.«

Kurz überlegte Carter, ob er Rileys Hilfe anfordern sollte. Er trat aus dem wild aufgetürmten Haufen aus Tischen und Stühlen heraus und machte, kurz bevor das beige Muster des Teppichbodens sich zusammenzog und ihn wie in einem Trichter in den kurzen Gang führte, eine Entdeckung. Es war die Spur einer dunklen Flüssigkeit, die sich in den Stoff des Bodenbelags gesogen hatte. Dabei konnte es sich nur um eine Sache handeln. Die Spur zog sich in den Gang und endete an der Tür zum linken Raum.

Niemand hinter ihm sagte etwas, und Carter nahm an, dass sowohl seine Männer, als auch die befreiten Geiseln jeden seiner Schritte mit angehaltenem Atem verfolgten. Vorsichtig setzte Carter einen Fuß vor den anderen, legte seine Hand auf das Terminal der Tür und zählte von drei runter. Dann tippte er kurz und machte einen Satz zurück. Die Tür fuhr in die Wand.

Carter riss die Augen weit auf, als er erkannte, was sich da vor ihm in dem engen Materiallager befand.

»Riley, Snake!«, sagte er. »Ich habe hier die anderen Geiseln.«

Carter nahm die Waffe runter und verschaffte sich einen Überblick. Wie auch ihren anderen Opfern hatten die Rebellen ihnen Münder und Glieder gefesselt. In ihrer Mitte kniete ein Mann um die 60, mit glattem schwarzem Haar und schief sitzender Brille. Auf seinem Gesicht stand der Schweiß, und er brüllte etwas in das Klebeband an seinem Mund. Carter kannte ihn. Es war Gouverneur Zavala, einer der höchsten Politiker der vereinten Territorien.

Ohne zu zögern, riss Carter ihm den Streifen vom Mund.

»Das ist eine Falle!«, würgte der Mann hervor.

Carter unterdrückte seine aufkommende Nervosität. Er dachte nach. Und zählte.

Verdammt, hier drinnen sind 17!, dachte er.

Ein ohrenbetäubender Knall vor ihm zerriss plötzlich die Stille, gefolgt von einem gleißenden Lichtblitz. Eine Druckwelle aus dem Nichts erfasste Carter frontal, schleuderte ihn gegen die Wand in seinem Rücken. Ein alles zerfressender Feuerball blähte sich über ihm auf, schlug gegen sein Visier. Der Alarm des Anzugs schrillte los.

»Achtung, Lebensgefahr. Sehr hohe Temperatur ermittelt.«

Rauch und Staub wirbelten durch die Luft, als die Wucht der Explosion den Lagerraum erschütterte. Ein infernalisches Chaos aus zerfetzendem Metall und splitterndem Beton begleitete die Erschütterung. Als sich der Qualm langsam lichtete, offenbarte sich Carter ein grauenhaftes Bild: Gouverneur Zavala und die anderen Geiseln lagen leblos am Boden, Blut und Schutt bedeckten ihre Körper. Die Hoffnung auf eine friedliche Lösung der Geiselnahme war verloren. Doch noch bevor Carter Zeit hatte, den Schock zu verarbeiten, durchzuckte ihn das Krachen von Laserfeuer.

Es waren die Geiseln, die sie zuerst befreit hatten. Sie hielten Waffen in ihren Händen, um ihren perfiden Plan zu vollenden. Carter rappelte sich auf, sein Herz hämmerte in seiner Brust, als er zusehen mussten, wie Sherman und Billy aus nächster Nähe niedergestreckt wurden. Sie waren tot, bevor sie den Boden erreichten, getroffen von den tödlichen Schüssen der falschen Geiseln. Snake suchte verzweifelt hinter einem umgestürzten Tisch nach Schutz.

Riley und die anderen ›Rascals‹ stürmten den Raum, doch die Rebellen waren vorbereitet. Mit einem gezielten Fingertipp aktivierte einer von ihnen Sprengfallen, die sie an den Türen platziert hatten. Ein Dutzend verheerende Explosionen erschütterte den Raum, und Carter sah mit Entsetzen, wie zwei seiner Männer den Detonationen zum Opfer fielen. Panik und Chaos drohten die Abgeklärtheit der ›Rascals‹ zu zerschmettern. Verzweifelt versuchten sie, die Situation unter ihre Kontrolle zu bringen.

»Abbruch!«, schrie Riley, der von der unerwarteten Gegenwehr überrascht war.

»Ich erteile hier die Befehle, verdammt!«, brüllte Carter zurück, seine Stimme übertönte das Getöse der Explosionen. »Kreist sie ein, wir holen uns den Koffer.«

»Vergiss den verdammten Koffer, Mann! Wir fallen wie die Fliegen!«

Dichter Rauch behinderte seine Sicht. Carter aktivierte seine holografische Anzeige, um eine virtuelle Karte des Raums auf seinem Visier zu erhalten und die Positionen der Feinde zu lokalisieren.

Er erkannte, dass die Angreifer die Mitte des Raums verließen und sich auf einen der Ausgänge zubewegten. Eine der mit roten Polygonen visualisierten Personen hielt dabei einen quadratischen Gegenstand in den Händen.

»Riley!«, rief Carter über den Lärm hinweg. »Sie haben den Koffer und wollen über die westliche Seite fliehen!«

»Verstanden, sie werden nicht weit kommen.«

Drei der Rebellen verließen hastig den Raum, und Carter eilte am Rand des Besprechungsraums zur Tür. Plötzlich tauchte Snake aus dem Dunst auf und nickte ihm zu. Gemeinsam stürmten sie durch die brennenden Trümmer hinaus in den Korridor, bereit, den Feinden den Weg abzuschneiden und den Koffer zurückzuholen. Carter sah noch, wie die Rebellen in einen schmalen Seitengang einbogen.

»Verdammt, Riley! Wo bleiben deine Leute?«, rief er.

Carter und Snake folgten den Rebellen in den schmalen Korridor, bogen um mehrere Ecken, immer auf der Hut, nicht in feindliches Feuer oder eine weitere Sprengfalle zu geraten. Während Snake absicherte, rief Carter den Grundriss des Gebäudes auf.

»Der Gang führt raus auf ein anderes Dach«, stellte er fest.

»Um einen Hunderter, dass die ein Fluchtfahrzeug haben«, knurrte Snake.

»Darum brauchen wir nicht zu wetten.«

Nach zwei weiteren Biegungen stürmten Carter und Snake hinaus in den Regen. Am Rand des Dachs, etwa 20 Meter vor ihnen, sah der Captain den koffertragenden Rebellen. Das Neonlicht reflektierte sich auf seiner nassen Haut. Carter erkannte ein hageres Gesicht mit einem dürftigen Bart. Es war der Kerl, den er zuerst hatte befreien lassen. Sein Hemd steckte nur halb in der Hose und er war nass bis auf die Knochen, und mit einer Mischung aus Hass und Verbissenheit blickte er auf die beiden Soldaten der Earth Alliance. Snake hatte die Waffe im Anschlag, doch Carter hielt ihn zurück.

»Nicht, er hat den Koffer!«

Der Angreifer dagegen hatte keinerlei Skrupel. Er riss die Pistole nach oben, schoss. Snake ging brüllend nieder. Carter nahm sein Gewehr hoch, doch der Rebell war schneller. Er sprang nach hinten ab und verschwand hinter der Dachkante.

»Verdammt!«, fluchte Carter.

Er wollte Snake zur Hilfe eilen, doch dieser rappelte sich bereits wieder auf. Mit zusammengepressten Augen sah er Carter an.

»Nur gestreift. Linker Arm!«, ächzte der Soldat.

Grelle Lichter tauchten am Rand des Dachs auf. Geistesgegenwärtig packte Carter Snake und warf sich mit ihm hinter einen Belüftungskasten. Keine Sekunde zu früh, denn rotes Laserfeuer traf die Stelle, an der sie gerade noch gestanden hatten.

»Die gehen mir langsam aber sicher auf den Geist!«

In Carter wuchs der Hass auf die Rebellen. Sie hatten ihm eine derbe Niederlage beschert, alle Geiseln und etliche Kameraden getötet. Sie würden dafür bezahlen. Snake war bei ihm, das sah Carter. Wo immer er hingehen würde, sein Kamerad würde mitgehen, egal wie stark er verletzt war.

»Bis in den Tod«, sagte Carter.

»Bis in den Tod«, bekräftigte Snake.

»Machen wir sie fertig!«

Das fliegende Fahrzeug drehte bereits ab, als Carter und Snake aus dem Versteck sprangen. Der Captain feuerte, doch das dunkle Gefährt entfernte sich zu schnell, als dass er gut genug zielen konnte. Mit aller Kraft rannte Carter auf den Abgrund zu, sprang ab und ließ sich über die Kante gleiten. Er spürte, wie die Düsen seines Jetpacks sich aktivierten und der Vorschub ihn hinaus in den Regen trieb.

»Ich bin dicht hinter dir«, drang es in Carters Helm.

»Alles klar, wir gehen von beiden Seiten ran und holen den Vogel aus der Luft.«

Der feindliche Gleiter jagte in eine der Hochhausschluchten, und wäre die Lage nicht so verzweifelt gewesen, Carter hätte mit Respekt auf diese wahrhaft endzeitliche Szenerie aus glühendem Neonlicht und regenbedeckten Hochhausschatten geblickt. Doch Carter war am Rande der Verzweiflung, er durfte es sich nur nicht anmerken lassen, sonst hätte der Feind gewonnen.

Der ratternde Klang der Jetpacks durchschnitt die Nacht, als Carter und Snake durch die Luftstraße von New Caledon flogen. Die Hochhausschluchten reckten sich neben ihnen wie düstere Wände in den finsteren Himmel, während das Fahrzeug der Rebellen wild durch den dichten Verkehr manövrierte. Carter wusste, dass er jederzeit Laserfeuer erwarten musste, doch bisher schien es, als rechneten die Rebellen nicht damit, verfolgt zu werden.

Carter flog dicht an das Heck des dunklen Gleiters heran, streckte seine Hände aus und bekam die Dachreling auf der Beifahrerseite zu packen. Er linste über das gewölbte Dach und sah, dass Snake es ihm gleichtat. Der Lärm der Stadt verschmolz mit dem Dröhnen der Triebwerke und die Rebellen im Gleiter bemerkten nun, dass sie Besuch hatten.

Das Schiff wandelte sich zu einem wilden Tier, das versuchte, seine Jäger abzuschütteln. Es schoss durch enge Kurven und glitt knapp an den umliegenden Gebäuden vorbei. Carter kämpfte gegen die G-Kräfte, die auf seinen Körper einwirkten, als das Schiff aus dem Verkehr ausbrach und einen plötzlichen Sinkflug vollführte. Er musste handeln, jetzt!

In einem kühnen Manöver gelang es ihm, sich näher an die Fahrertür vorzuarbeiten. Er angelte nach seiner Pistole, das Gewehr war in dieser Situation zu unhandlich. Die Scheibe neben Carter zersplitterte plötzlich und ein roter Laserstrahl entwich in die Nacht.

Instinktiv langte Carter in die Öffnung und feuerte an die Stelle, an der er den Fahrer vermutete. Das rebellische Gefährt begann unverzüglich zu taumeln, geriet schneller außer Kontrolle, als es Carter lieb war. Er musste an den Koffer gelangen. Er zwängte sich mit dem Oberkörper in den Innenraum. Der Fahrer lag reglos auf dem Steuer, doch auf der Rückbank waren die beiden anderen. Der hagere Kerl umklammerte den Koffer mit einer Hand. Das Schiff schüttelte sich unkontrolliert. Der Rebell drückte den Lauf seiner Waffe gegen Carters Visier.

Carter stieß sich ab, gelangte wieder nach draußen, ließ den Gleiter los. Gerade in dem Augenblick, als das Fahrzeug mit einem gewaltigen Knall gegen die gläserne Front eines Wolkenkratzers schlug. Über Carter bildeten sich Rauch und Lichtblitze, während das rebellische Vehikel in einem Feuerball aufging. Carter stürzte in die Tiefe, gefolgt von den Trümmern des zerstörten Gleiters.

Die Triebwerke seines Jetpacks zündeten und Carter bewegte sich aus der Bahn. Das Fahrzeug schlug mit lautem Getöse auf die Straße, verfehlte wie durch ein Wunder Passanten und Autos. Carter landete mit einer Geschwindigkeit am Boden, als wäre er Teil des anhaltenden Regengusses.

Das Wrack des Gleiters lag vor ihm. Die letzten Glassplitter der schwer getroffenen Fassade rieselten glitzernd nieder, als Carter einige Meter vor sich, auf halbem Weg zum Gleiter, einen silbernen quadratischen Gegenstand am Boden entdeckte.

Der Koffer, dachte er.

Die Klappe des Stahlbehälters war durch den Absturz ein Stück aufgesprungen. Auf der Oberseite prangte ein stark abgenutztes Logo der Earth Alliance. In dem Koffer entdeckte Carter etwas, das ihn an einen Zylinder von sandsteinähnlicher Struktur erinnerte. Darauf erkannte er Verzierungen oder Schriftzeichen. Entschlossen hielt der Captain auf den Koffer zu. Wenn dieser Auftrag schon derart desaströs verlaufen war, so wollte er doch zumindest einen kleinen Teil erledigt haben.

Doch kurz bevor er den Koffer erreichte, erhob sich jemand aus dem Wrack. Mit Schrecken musste Carter feststellen, dass es der hagere Kerl war. Wie konnte er diesen Unfall überlebt haben? Blut rann ihm über sein Gesicht, doch das forderte nicht Carters volle Aufmerksamkeit. Es war die Waffe, die der Kerl ein weiteres Mal auf ihn richtete. Er feuerte.

Die Wucht des Lasers traf Carter am Bauch. Er wurde zurückgeschleudert, landete auf dem Gehweg. Der Regen prasselte gegen sein Visier, als das Bordsystem des Anzugs erneut losschrillte.

»Achtung, Riss im Anzug und Blutverlust ermittelt.«

Der brennende Schmerz, der sich in Carters Bauchgegend ausbreite, brauchte keine Warnmeldung einer unsensiblen KI. Ächzend richtete er sich auf, hielt die Pistole in seiner zitternden Hand. Der Rebell war vom Schutthaufen vor dem Wrack herabgestiegen, schloss mit erhobener Waffe den Koffer und nahm ihn wieder an sich. Hasserfüllt blickte er auf Carter nieder, streckte die Waffe in seine Richtung. Doch anstatt zu schießen, suchte er das Weite, verschwand im Regenschleier. Nur noch die Lichter eines zum Himmel aufsteigenden Jetpacks sah Carter, als der Schmerz unerträglich wurde. Und plötzlich erschien Snakes besorgtes Gesicht über ihm.

»Verdammt, du bist getroffen!«, sagte er.

»Er ist weg«, keuchte Carter. »Der Mistkerl ist uns entwischt. Mit dem Koffer.«

»Ganz ruhig, du brauchst jetzt einen Arzt, Mann. Beweg‘ dich ja nicht!«

Aus der Ferne hörte Carter sich schnell nähernde Sirenen, nahm wahr, wie die Passanten sich um die Absturzstelle versammelten und neugierig auf ihn und das brennende Wrack starrten. Sein Bewusstsein schwand in dem Maß, wie der Schmerz an seinem Bauch anwuchs. Snake war bei ihm, doch das tröstete ihn nicht über die Tatsache hinweg, dass dieser Einsatz einen Wendepunkt in seiner Laufbahn markieren würde. Und nicht nur für Carter würde dieses Desaster Auswirkungen haben, auch für die Earth Alliance und ihren Kampf gegen die immer stärker werdenden Rebellen.

Und dann, mit einem Mal, wurde Carter schwarz vor Augen, und er verlor sein Bewusstsein.

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