Der Meister

Dunkelheit hüllte Fen ein. Wie ein finsterer Mantel bedeckte sie ihn, hielt das Licht und die Wärme des Tages von ihm fern, während der unbarmherzige und fahle Schein der Monitorwand die einzige Lichtquelle in dem kleinen Raum war. Seit Stunden saß der Rebellenanführer nun schon hier und mittlerweile waren seine Augen so gereizt, dass er pausenlos blinzelte, um die Videoüberwachung einigermaßen ertragen zu können. Der Ginseng-Tee in der Tasse auf dem Pult war längst kalt und das verblasste Foto Ehuangs vergrub sich so tief im Schatten, dass Fen den Eindruck bekam, seine Frau hätte nie existiert.

Alles, was im Moment zählte, war das offene Portal und die Ankunft des Meisters. Und die Operation, welche 24 seiner treuen Gefolgsleute in diesen Minuten in den Orbit der Erde führte, wo sie die Energieumwandler der Echos auf den Raumstationen platzierten. Von einigen seiner Helfer wusste er längst, dass sie ihren Auftrag ausgeführt hatten, doch die meisten waren noch unterwegs. Fen sah es auf den Monitoren.

Jeder Umwandler besaß eine eigene Lokalisierungssignatur und jeder Helfer ebenfalls. Anhand derer konnte Fen exakt ermitteln, ob alles nach Plan verlief oder ob seine Leute aufgeflogen waren. In der unteren linken Ecke des rechten Monitors sah er zum Beispiel Nummer 12. Sie befand sich zusammen mit Nummer 8 auf Harbury Station in einer Warteschlange am Raumhafen und wartete auf den Weiterflug nach Nanming-13.

Fen wusste, diese Phase der Operation war ein kritischer Moment, denn so lange nicht alle Energieumwandler an ihren Bestimmungsorten waren, war die Rebellion verwundbar und der Plan der Echos konnte nicht umgesetzt werden. Bei dieser Unternehmung kam es auf jeden Einzelnen von ihnen an, denn für das, was der Meister plante, reichte das winzige Portal in der Unterwelt Tenggara Havens nicht aus. Verglichen mit dem gewaltigen Himmelsportal, das sich hoffentlich schon in wenigen Stunden über der nördlichen Hemisphäre auftun würde, war es sogar ausgesprochen mickrig. Doch momentan erfüllte es seinen Zweck. Fen erhielt über dieses Nadelöhr sämtliche Ausrüstung der Echos, inklusive der ersten Kämpfer.

Sein Intercom piepte und Fen schreckte hoch. In der Regel rief ihn niemand unangekündigt an. Sogar seinem Chefphysiker Dr. Hao hatte er diese Unsitte ausgetrieben. Neugierig sah Fen auf das Display an seinem Handgelenk und seine Verwunderung steigerte sich noch, als er feststellte, dass weder ein Name noch eine Nummer darauf angezeigt wurde. Unruhe keimte in ihm auf. Konnte es sein, dass die Allianz Wind von der Sache bekommen hatte?

Wie konnte sie nicht! Überall in Tenggara Haven zeigten sich die Auswirkungen der Portalöffnung. Fen wusste, dass diese blauen Phänomene technisch gesehen eine Begleiterscheinung waren, ausgelöst durch das Kraftfeld des Portals, welches durch multipolare Gravitationsspitzen in bestimmte Richtungen ausstrahlte. Diese hätte man laut Dr. Hao mit der Implementierung eines Asymmetrie-Konverters regulieren können, allerdings war nicht genug Zeit gewesen, einen solchen zu entwickeln, und Fen hatte Kollateralschäden durch das unvorhersehbare Ausstrahlen des Kraftfelds billigend in Kauf genommen.

Er hatte damals nur einen Bruchteil all dessen wirklich verstanden, was Hao ihm vorgetragen hatte, aber nun, wo er die Auswirkungen über den Dächern der Stadt sah, glaubte er, es zu verstehen. Jeder sah die Zeichen und die Allianz musste naiv sein, sie nicht richtig zu deuten, fand Fen.

Unentschlossen blickte er auf die blinkende Animation des eingehenden Anrufs und schließlich überwand er sich und nahm das Gespräch an.

»Hallo?«

»Tian Fen«, rief eine dunkle Stimme.

Fen erschauderte. Denn obwohl sich sein Gegenüber nicht vorgestellt hatte, so wusste er genau, wen er da an der Leitung hatte. Es war die dunkle Macht hinter der Rebellion.

»Meister.«

»Endlich sprechen wir uns persönlich.«

»Ich bin dankbar, in deinem Dienst zu stehen«, sagte Fen ehrfürchtig.

Der Meister erwiderte nichts und eine gefühlte Ewigkeit herrschte eine unerträgliche Stille. Nur ein eigentümliches Knistern, so als stünde die andere Seite unter Strom, drang aus dem Lautsprecher, und in Fen stiegen bereits Sorgen auf, er könne den Meister mit seiner Aussage verärgert haben.

Schnell sagte er deshalb: »Was verschafft mir die Ehre?«

Fen war, als vernahm er ein dunkles Röcheln. Der Meister ließ sich Zeit mit seiner Antwort.

»Sag mir«, rief er mit so viel Bedacht wie Finsternis in seiner Stimme, »wie sich mein Plan entfaltet.«

»Oh, sehr gut, Meister, sehr gut. Meine Leute sind auf dem Weg zu den Stationen, um die Umwandler zu positionieren.«

»Das ist gewiss eine positive Kunde.«

»Und ich setze alles daran, dass dein Plan ohne Zwischenfälle ausgeführt wird«, bekräftigte Fen.

Er verfluchte sich sofort für das, was er gesagt hatte, denn es klang wie eine Entschuldigung. Er musste aufpassen, dass er sich in der Gegenwart seines Meisters nicht als unterwürfiges Mäuschen gab.

Der Meister verkündete: »Deine Zeit, Fen, ist nun gekommen.«

»Meine Zeit?«, fragte der Rebellenführer und versuchte, sich die Nervosität nicht anmerken zu lassen.

»Ich werde dir den Aktivator überbringen. Schaffe ihn zu den von mir vorgegebenen Koordinaten. Er wird das Himmelsportal öffnen, sobald alle Umwandler ihren Bestimmungsort erreicht haben.«

»Wie du wünschst, Meister.«

»Und wenn dieses Portal einmal offensteht«, sagte die tiefe, schnarrende Stimme, »gibt es kein Zurück mehr. Die Menschen werden schneller zugrunde gehen, als sie sich es im Entferntesten vorstellen können.«

Fen schluckte. Bisher hatte er die Vision des Meisters für metaphorisch übersteigert gehalten, nämlich für ein Paradies, das er mit blumigen Worten über den Mund des Sehenden verkündet hatte. Doch nun klang es wie eine Drohung, und Fen war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sich seine Vorstellung von einem posthumanen Arkadien mit der des Meisters deckte.

»Werde ich mich auf dich verlassen können?«, fragte der Meister mit Nachdruck.

»Selbstverständlich!«, gab Fen ohne Zögern von sich. »Ich werde alles tun, was du verlangst.«

Wieder blieb es beängstigend still und das elektrische Surren auf der anderen Seite bescherte Fen eine eisige Gänsehaut.

»Da ist noch eine Sache«, sagte der Meister. »Die beiden Menschen, die den Portalschlüssel entwenden wollten.«

»Ich weiß, Meister. Den Polizisten konnte ich lokalisieren. Ich habe deine Echos zu seiner Wache geschickt, um ihn zu eliminieren.«

»Er ist entwischt.«

»Was?«, gellte Fens Stimme. »Woher …«

»Finde ihn!«, drohte der Meister. »Und töte ihn. Auch die Frau. Sie sind eine Gefahr für das ganze Unterfangen.«

Fen nickte, als könnte der Meister ihn sehen. »Das werde ich! Du wirst dich auf mich verlassen können!«

»Enttäusch mich nicht.«

Mehr sagte der Meister nicht. Das Telefonat endete abrupt und das Display von Fens Intercom erlosch. Er wusste, er hatte keine andere Wahl, als dem Verlangen seines Meister Folge zu leisten. Und er wusste auch, was ihm blühte, sollte er versagen, nämlich eine Bestrafung, die weit außerhalb seiner Vorstellungskraft war.

Wache 225

Der Wind strich launisch durch die Kronen der Mangrovenbäume. Dort, wo ihre spitz nach oben wachsenden Wurzeln nicht mehr über den höchsten Punkt des Tidenhubs aus dem Salzwasser herauszuragen vermochten, begann die Flores-See. Carter vermutete, dass sich weit draußen gerade ein Unwetter zusammenbraute, welches im Laufe des Tages die Küste von Sumbawa erreichen würde.

Ein Sturm. Wie passend!, dachte er.

Der sandige Parkplatz an der kleinen Landstraße lag etwa 15 Kilometer vor Tenggara Haven, und das in der Stadt herrschende Chaos drang lediglich als unheilvolles Grollen zu ihnen. Carter blickte durch die Bäume hinauf in den sommerlichen Himmel. Wenn es nach ihm ginge, könnte er einfach hierbleiben. Auf der schmalen Straße waren nur einige Bauern aus dem Umland unterwegs. Man kannte sich, zwei knatternde Kleinlaster hielten nebeneinander an, und die Fahrer unterhielten sich durch die offenen Fenster. An der Färbung ihrer Stimmen konnte Carter hören, was das beherrschende Thema an diesem Morgen war.

»Na schön, Reed«, sagte Joseph. »Warum zur Hölle sind wir hier draußen?«

Er stand in seiner strahlend weißen Uniform breitbeinig und mit verschränkten Armen vor seinem Hoverbike. Carter dagegen sah mit den dunkelroten Tropfen auf dem weißen T-Shirt und der verschlissenen Jeans wie jemand aus, den Joseph gerade hochgenommen hatte.

»Wir müssen überlegt vorgehen«, sagte Carter. »Die Rebellen scheinen in der Stadt überall asymmetrisch Anschläge zu verüben. Hier draußen sind wir eine Zeit lang sicher.«

Joseph sah sich um. »Kann ja sein, Reed. Aber du wirst mir wohl kaum widersprechen, dass es sinnvoller ist, wenn wir uns einer Wache anschließen und sie bei der Terrorbekämpfung unterstützen.«

»Da hast du verdammt nochmal recht, aber ich muss dir vorher noch eine Sache sagen.«

Joseph neigte den Kopf zur Seite und lächelte schief.

»Schieß los, Cowboy.«

Carter sah betreten zu Boden. Er wusste nicht so recht, wo er anfangen sollte. Ein zerrupftes Huhn huschte plötzlich an seinen Füßen vorüber und im nächsten Augenblick lief ein empört rufender Bauer dem Tier hinterher. Offenbar war es dem Käfig auf der Ladefläche seines Transporters entwischt und er versuchte nun verzweifelt, es wieder einzufangen.

»Du wirst mich vermutlich für verrückt halten«, begann Carter zögernd.

»Verrückt?«, lachte Joseph. »Machst du Witze? Hier in Tenggara ist jeder verrückt!«

Er schlug sich stolz auf den Brustpanzer. Carter seufzte.

»Diese blauen Erscheinungen und diese Gestalten, die Janaka und die anderen umgebracht haben … es gibt da einen Zusammenhang. Im Tunnelsystem unter der Stadt gibt es ein Planetenportal.«

Josephs Stirn legte sich ungläubig in Falten. »Du verarschst mich, oder?«

»Keine Ahnung, wie, aber die Rebellen haben das Portal gefunden, und was noch schlimmer ist, sie haben es aktiviert.«

Joseph stapfte auf Carter zu, starrte ihn mit seinem verbliebenen Auge bohrend an. Glaubte er ernsthaft, Carter würde ihm Lügen auftischen?

»Das ist unmöglich, Reed! Diese Geschichten um die Portale sind …«

»Erfunden?«, rief Carter etwas zu laut. »Das dachte ich zuerst auch. Aber ich habe es gesehen, Joseph! Ich habe das Portal gesehen. Die Rebellen haben es ans Laufen gebracht und es ist etwas von der anderen Seite herübergekommen.«

»Was?«, fragte der er. »Was ist von der anderen Seite rübergekommen?«

»Wahrscheinlich die Kerle, die uns umbringen wollten. Wenn du von den Portalen gehört hast, kennst du bestimmt auch die Geschichte dahinter.«

Joseph Davis sah düster zu den beiden Bauern hinüber. Sie hatten das entlaufene Huhn eingefangen und setzten sich gerade wieder in ihre Fahrzeuge. Eine starke Windböe zog über die Mangroven hinweg und ihre Ausläufer wirbelten den trockenen Staub am Boden auf.

»Die Allianz hat diese Portale im Geheimen betrieben«, erklärte Joseph. »Bis zu dem Tag, an dem man auf einem der Planeten auf Außerirdische gestoßen ist. Gott, Reed! Ich komme mir vor wie ein Märchenonkel.«

»Es ist alles wahr, Joseph«, sagte Carter. »Und wir müssen dieses Portal schließen, wenn wir dem Chaos in der Stadt ein Ende setzen wollen.«

»Nur mal angenommen, du hast recht. Wie willst du das hinkriegen. Ich meine, dir ist schon bewusst, wie mächtig die Rebellen in Tenggara Haven sind, oder?«

»Deshalb brauche ich jeden fähigen Mann.«

Joseph trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf.

»Nein, Mann. Das kannst du unmöglich von mir verlangen.«

»Bitte, Joseph!«

»Ich kann für Recht und Ordnung sorgen, wo es mir möglich ist. Aber dieses Portal? Das ist ‘ne Nummer zu groß für mich. Da bräuchtest du ‘ne ganze Armee. Wenn es überhaupt existiert.«

Carter stemmte die Hände in seine Hüften und drehte sich ab. So wurde das nichts. Ohne ein Team konnte er den Rebellen unmöglich gegenübertreten, und der einzige Ort, brauchbare Leute zu finden, war bei der örtlichen Polizei. Unter ihnen allerdings geeignete Kämpfer zu finden, schien ein genauso hoffnungsloses Unterfangen zu werden, wie in einer Hafenkneipe an einen Sherpa zu gelangen.

Doch Carter war kein Dorfpolizist. Nie gewesen. Die wenigen Tage, die er hier in Tenggara war, hatten ihn zwar verändert, aber er war noch immer Captain Carter Reed. Er war nicht umsonst über zehn Jahre lang Anführer der ›Rascals‹ gewesen. Er wusste, wie man Kämpfer motivierte, und waren sie noch so widerspenstig. Meist reichte ein einziger Satz.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so ein gottverdammter Feigling bist, Joseph.«

Hinter seinem Rücken hörte er ein unbeherrschtes Murren und das Scharren der Stiefel auf Sand. Carter konnte sich Josephs Gesicht bildlich vorstellen, vor Wut kochend, seine blitzend weißen Zähne aufeinandergepresst.

»Na schön, Reed«, rang sich Joseph ab. »Was ist dein Plan?«

Die Hoverbikes der beiden Polizisten jagten mit gut hundert Stundenkilometern über die Baumwipfel hinweg und erreichten die ersten Häuser Tenggara Havens. Carter suchte die Gegend nach weiteren Unregelmäßigkeiten ab, doch diese blauen Erscheinungen schienen nur in der Nähe des Portals aufzutreten. Linker Hand lag die ausgedehnte Saleh-Bucht mit ihren zahllosen großen und kleinen Schiffen. Einige Kilometer vor Carter erhoben sich majestätisch die schillernden Hochhaustürme und dahinter die grünen Berge, an deren Hängen sich das alte hinduistische Kloster befand.

Je näher sie der Innenstadt kamen, desto deutlicher spürte Carter die Unruhe. Zwischen den Gebäuden sah er die hoch aufsteigenden Plasmasäulen, die sich wie Speere überdimensionaler Außerirdischer ins Herz der Stadt bohrten und für Chaos und Verwüstung sorgten. Joseph führte Carter abseits der verstopfen Lufttrassen durch das Gewirr, bis sie schließlich einen Platz in der Nähe der Hafenpromenade erreichten. Sie stellten ihre Hoverbikes in der stechenden Vormittagssonne ab.

»Da wären wir«, sagte der Joseph. »Wache 225.«

»Und du bist dir sicher, dass es eine der besten in der Stadt ist?«

»Ich würde sogar mein letztes Auge darauf verwetten.«

Der Platz vor der Wache wurde von dem gleichen Durcheinander heimgesucht, das auch den Rest der Stadt fest im Griff hatte. Herrenlose Gleiter und Fahrzeuge standen kreuz und quer auf den Gehwegen und der Straße. Die Händler bauten hastig ihre Stände ab, sie ahnten wohl, dass sie heute keine Geschäfte machen würden. Ein regelrechtes Hupkonzert schallte von allen Seiten durch die Gebäudeschluchten, aber auch Polizeisirenen, Megafon-Durchsagen und aufgebrachtes Rufen verängstigter Bewohner. Leute, die zu Fuß unterwegs waren, eilten vorüber, einige mit großen Reisetaschen auf den Schultern.

Carter und Joseph bahnten sich ihren Weg durch die chaotisch abgestellten Fahrzeuge. Am Eingang der Wache hatte sich eine Menschentraube gebildet und drei überforderte Streifenpolizisten versuchten vergeblich, sie in Schach zu halten. Joseph zeigte seinen Ausweis, und auf das grimmige Nicken der Ordnungshüter durften er und Carter eintreten.

Carter hatte noch gehofft, innen wäre die Lage entspannter, doch auch an der Empfangstheke herrschte Chaos. Leute riefen wild durcheinander, und nach allem, was Carter aus dieser hysterischen Kakophonie heraushörte, sorgten sie sich um diese blauen Erscheinungen, die ihre Häuser zum Einsturz brachten. Joseph deutete Carter mitzukommen. Sie ließen den Empfang links liegen und traten durch eine offene Sicherheitsschleuse in den Mitarbeiterbereich, wo sie augenblicklich von einem abgespannten Polizisten in schusssicherer Weste aufgehalten wurden.

»Halt! Wer sind Sie und warum bringen Sie diesen Gefangenen hierher?«

»Welchen Gefangenen?«, fragte Joseph verwundert.

Der untersetzte Polizist mit den schmalen Augen und der Glatze musterte Carter ausgiebig, so als wollte er sich versichern, keine Halluzination vor sich zu haben.

»Schon gut!« Joseph lächelte verlegen. »Ist einer von unseren Jungs. Davis und Reed, Wache 327.«

Joseph hatte offenbar geglaubt, mit ihrem Vorstellen das Misstrauen des Polizisten zu entschärfen, doch der Mann wich keinen Zentimeter zur Seite und starrte sie noch skeptischer an.

»327?«, fragte er mit quiekender Stimme. »Ich dachte, dieses Rattenloch hätte man längst zugemacht!«

»Hören Sie, Mister …«, rief Carter.

»Bintang. Captain Bintang.«

»Fein, Captain Bintang.« Carter nahm eine respektvolle Körperhaltung an, wobei es bei seinem ramponierten Aussehen wohl vergebens war. »Unsere Wache wurde von den Rebellen angegriffen. Officer Davis und ich sind die einzigen Überlebenden. Wir haben Hinweise darauf, dass die Rebellen unter der Stadt eines der alten Planetenportale in Betrieb genommen haben und …«

»Halt!«, forderte Captain Bintang.

Seine Augen irrten durch den Raum. Hinter ihm liefen seine Mitarbeiter hektisch auf und ab, warfen sich knappe Kommandos zu. Einige zogen sich ihre Einsatzausrüstung über, andere telefonierten, und wiederum andere hielten die aufgebrachte Meute davon ab, über die Theke zu klettern.

»Wie Sie sehen, haben wir gerade eine Menge zu tun«, erklärte Captain Bintang. »Es ist mir egal, warum Sie hier sind. Ich versuche, den Betrieb in meiner Wache aufrechtzuerhalten. Vor wenigen Minuten haben wir von der Allianz eine Order zu einem Bereitschaftseinsatz erhalten. Es geht um die Evakuierung der Hotspots im Stadtzentrum. Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich auf Ihr Anliegen nicht eingehen kann.«

»Aber genau darum geht es«, sagte Carter. »Wir wissen, was diese Erscheinungen hervorruft. Es ist ein aktiviertes Planetenportal unter der Stadt. Sagen Sie dem Einsatzleiter der Allianz, er soll sofort …«

»Halt!«, rief Captain Bintang wieder. »Es gibt keine ›Planetenportale‹. Und nun verschwinden Sie. Ich habe Wichtigeres zu tun, als mir Ihren Quatsch anzuhören!«

Carter gab nicht auf. »Sie müssen uns nicht glauben. Aber dann lassen Sie mich wenigstens mit dem Einsatzleiter sprechen.«

»Raus hier!«, brüllte der Captain.

»Nein! Sie werden mir zuerst sagen, für was Sie dieses blaue Zeug da draußen halten!«

»Einen Scheiß werde ich! Und es ist mir auch egal, was das ist. Ob die Allianz es für ein kosmisches Phänomen oder für was auch immer hält. Ich kämpfe für Frieden und Ordnung in meiner Stadt! Und jetzt verschwinden Sie, bevor ich Sie beide verhaften lasse!«

Die Sonne brannte unbarmherzig auf ihre Köpfe herab, während Carter und Joseph das chaotische Treiben von einer kleinen Freitreppe auf der anderen Seite der Wache aus beobachteten.

»So ein verfluchter Wichser!«, rief Carter.

»Er ist der Captain, Mann, was soll er anderes sagen?«

»Der Kerl hätte uns wenigstens zuhören können.«

»Hast du gesehen, was bei ihm los ist?«, fragte Joseph. »Geh davon aus, dass es in jeder gottverdammten Wache in Tenggara Haven so aussieht.«

»Dann brauchen wir einen anderen Plan.«

»Nein, Reed! Du brauchst einen anderen Plan.«

Carter seufzte und lehnte sich mit seinen Unterarmen auf die Knie. Das alles gefiel ihm nicht. Während seiner Zeit bei der Allianz wurden seine Handlungen nie infrage gestellt. Andererseits war Carter auch nie jemand gewesen, der wirklich große Entscheidungen getroffen hatte – er hatte immer nur Kommandos erhalten und diese ausgeführt – wenngleich er für das Leben seiner Teammitglieder verantwortlich war.

Und in Carter keimte die deprimierende Erkenntnis, dass sein ganzes Ansehen letztlich auf seiner Zugehörigkeit der Allianz begründet war. Das alles galt nun nicht mehr, jetzt, wo er nur noch Abschaum und am Boden der Tatsachen angekommen war. Auch hier gab es Befehle von oben, aber die schmeckten wie schales Bier. Was waren Carters Alternativen? Je länger er in der prallen Sonne saß, das Chaos beobachtend, desto deutlicher wurde der Weg, der ihm blieb. Er konnte das Spiel mitspielen und sich in die Reihen von Tenggaras Polizei stellen, um gegen den Feind zu kämpfen, oder aber …

Nein, das konnte er unmöglich tun. Wenn Carter zurück zur Allianz wollte, musste er um jeden Preis vermeiden, im Alleingang zu operieren. Das war schon einmal schiefgegangen und hätte ihm beinahe das Leben gekostet. Nämlich als er zusammen mit Olivia den Transitraum aufgesucht hatte. Außerdem hatte er am Rand der Legalität agiert, und dies nun fortzuführen, wäre das Dümmste, das er tun konnte. Wenn es herauskäme, würde Carter sich seine Rückkehr zur Allianz für immer an den Hut stecken können!

»Dir gehen die Ideen aus, oder?«, murrte Joseph neben ihm.

Carter sah ihn an. Joseph hatte ohne Zweifel ein Respekt einflößendes Äußeres und eine ebenso harte Schale, aber Carter glaubte, dahinter so etwas wie ein großes Herz zu erkennen. War Josephs Frage gar ein Eingeständnis seiner eigenen Schwäche? Carter überdachte seine Optionen, und in dieser ausweglosen Situation sah er für sich nur eine einzige. Und es war nicht die, herumzusitzen und zu warten, bis alles vorbei war. Carter erhob sich und blickte Joseph ernst an.

»Nein, die Ideen gehen mir nicht aus«, sagte er. »Aber die Möglichkeiten, die Sache legal durchzuziehen.«

Joseph funkelte ihn an. »So gefällst du mir, Reed! Du klingst schon fast wie ein Bulle dieser Stadt!«

Joseph erhob sich ebenfalls, schwang sich seine Dreadlocks hinter die Schultern, spuckte ungeniert auf den Gehweg und richtete seine Waffe.

»Erinnerst du dich an diese Diebin?«, fragte Carter. »Sie kann uns helfen. Technisch hat sie eine Menge auf dem Kasten. Und sie ist echt zäh.«

Joseph erwiderte: »Zäh ist nicht das, was ich an einer Frau schätze.«

»Oh, keine Sorge. Sie wird dich auch nicht schätzen. Olivia ist unbestechlich.«

»Kommen wir an sie heran?«

Carter wählte auf dem Intercom Olivias Nummer, doch anstatt eines Klingelns kam nur die Ansage, dass der gewünschte Gesprächspartner derzeit nicht erreichbar ist. Joseph deutete Carters verstimmten Blick richtig.

»Und jetzt?«, fragte er.

Carter dachte nach. »An ihrem Hoverbike klebt ein Tracker.«

»Dann werden wir in diese Wache gehen, setzen uns an einen Rechner und ermitteln ihre Position«, fasste Joseph zusammen.

»Genau an so etwas habe ich auch gedacht. Klingt einfach, wie du das so sagst.«

»Dieser Captain Bintang wird uns hassen.«

Joseph machte sich bereits auf den Weg, als Carter ihn zurückhielt. Mit ausgebreiteten Armen rief Joseph über die Straße: »Was?«

Carter sah an sich herunter. »Ich bräuchte neue Klamotten.«

Die Streifenpolizisten waren zu sehr mit der aufgebrachten Menschenmenge beschäftigt, als dass sie mitbekommen hätten, wie Joseph einen der Dienstwagen aufknackte. Das Heulen der Alarmsirene stoppte er innerhalb einer einzigen Sekunde, und während Carter aus der Materialkiste im Fond eine Polizeiuniform herausfischte, prahlte Joseph damit, wie oft er dies schon getan hatte. Sowohl vor als auch während seiner Polizeilaufbahn.

Carter ließ seine blutige Kleidung am Körper und zog den strahlend weißen Polizeianzug kurzerhand darüber. Sofort schöpfte er neues Selbstvertrauen und erhobenen Hauptes marschierte er zurück in die Wache. Captain Bintang erkannte sie sofort und warf sich ihnen entnervt in den Weg.

»Halt!«

»Halten Sie die Luft an, Captain«, sagte Carter humorlos. »Oder haben Sie vor, uns an der Polizeiarbeit zu hindern? Nur zu, rechnen Sie aber mindestens mit einer Beschwerde bei der Aufsichtsbehörde.«

»Drohen Sie mir?«, wütete Bintang.

»So, wie Sie mir drohten, Captain. Lassen Sie uns durch. Wir benötigen einen Ihrer Rechner, um einen Rebellen ausfindig zu machen. Wir haben Hinweise darauf, dass er Verbindungen zu den Drahtziehern der momentanen Offensive hat.«

Captain Bintang sah Carter und Joseph abwechselnd ab und Carter meinte zu sehen, dass er sie für verrückt hielt. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass man den Eindruck bekam, sie könnten aus ihm herausfallen, unter der faltigen Haut an seinem Hals drückten sich Zornesadern hervor, und sein Mund war so verzerrt, wie bei jemandem vor einem ausgewachsenen Wutanfall.

Carter hatte ihn, das wusste er. »Wie sieht‘s aus Captain. Ist Ihnen unser Anliegen eine Beschwerde wert?«

Joseph knurrte vergnügt: »Ja, Captain. Lassen Sie uns durch, verdammt.«

Bintangs Lippen bebten. »Fünf Minuten! Fünf verdammte Minuten, keine Sekunde länger. Oder ich vergesse mich!«

»Na, Sie sind ja drauf«, rief Carter.

Er klopfte dem Captain mit gespielter Kameradschaftlichkeit auf die Schulter und schob sich an ihm vorbei. Ohne sich ein weiteres Mal zu ihm umzudrehen, suchte Carter nach einem freien Arbeitsplatz und fand einen direkt am Empfang. Der dort arbeitende Polizist schrie gerade einen älteren Herren jenseits der Theke an. Scheinbar lagen die Nerven bei ihm ebenfalls ziemlich blank.

Carter warf sich in den Drehstuhl, rief das Tracking-Programm auf und gab die Identifikationsnummer von Olivias Ortungs-Chip ein.

»Lopok Distrikt«, las er. »Das ist ein Stück von hier entfernt. Wir machen uns am besten direkt auf den Weg.«

Plötzlich piepte Carters Intercom. Er sah bereits Olivias Gesicht vor sich, als er den Hinweis auf dem Display ablas und stutzte.

Neue Nummer. Möglicherweise Spam. Nummer blockieren?

Carter zögerte, doch dann nahm er das Gespräch an.

»Carter Reed?«, hörte er eine kräftige Männerstimme.

»Wer ist da?«

»Ashok Ramaswamy. Erinnerst du dich an mich? Ich hätte dich fast umgebracht.«

Carter konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Sieh mal einer an. Der kleine freche Rebell meldet sich persönlich bei mir. Dann haben sie dich also gefunden und vom Geländer losgemacht?«

»Das war überhaupt nicht witzig!«, rief Ashok.

»Bin ja auch kein witziger Kerl. Was willst du? Und woher hast du meine Nummer?«

»Das ist jetzt unwichtig«, sagte er Rebell atemlos. »Ich habe den Hinweis, dass der Penjaga ein weiteres Portal öffnen will, ein viel größeres!«

»Moment«, stutzte Carter, und Joseph sah ihn irritiert an. »Du willst uns Informationen geben? Über die Rebellion? Ist das eine Falle, oder willst du wirklich überlaufen?«

»Würdest du mir glauben, wenn ich dir eine ehrliche Antwort gebe?«

»Hast recht, warum sollte ich dir trauen? Dann ist unser Telefonat wohl an dieser Stelle beendet. Leb wohl!«

»Nein, warte!«, forderte Ashok.

Carter zögerte. Die Reaktion des Rebellen wirkte überraschend authentisch.

»Hör zu, du Wicht«, knurrte Carter. »Nenn mir einen verdammten Grund, warum ich dir trauen sollte. Du hast zehn Sekunden.«

»Ich bin ein schlechter Lügner«, sagte Ashok wie aus der Pistole geschossen.

Dann blieb es still. Carter wartete noch einen Augenblick, dann sagte er: »Mehr nicht? Ist ein ziemlich schwaches Argument.«

»Ach, verdammt! Was soll ich sagen? Ich habe mich nicht den Rebellen angeschlossen, damit eine außerirdische Kriegsflotte die Erde angreift.«

Jetzt wurde Carter hellhörig.

»Eine Kriegsflotte, sagst du?«

»Ich kann das alles erklären, aber am besten kommst du schnell zu mir. Pahlawan Road 645, Apartment 1173. Das ist in der 47. Etage. Und keine Polizei!«

»Ich bin die Polizei«, bemerkte Carter.

Ashok lachte auf. »Du bist kein Bulle, niemals. Also, was ist, wann kann ich mit dir rechnen?«

Carter blickte zu Joseph. Soeben schien sich ihr Plan geändert zu haben, und Carter war sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war. Und ob er diesem Halunken auf der anderen Seite des Telefons eine Zusage geben sollte. Was, wenn es doch eine Falle war? Wenn die Rebellen Ashok nutzten, um Carter auszuschalten? Immerhin waren diese dunklen Gestalten hinter ihm her.

Carter antwortete: »Also gut. In einer halben Stunde.«

Dann legte er auf. Joseph sah ihn verstimmt an.

»Du hast nicht gerade deinen Plan über den Haufen geworfen und stattdessen mit einem dieser dreckigen Rebellen ein Treffen vereinbart, oder?«

»Doch, genau das«, erwiderte Carter. »Der Kerl kann uns zum Transitraum bringen.«

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